Sonntag, 25. Oktober 2020

562. »Vom assyrischen Baum des Lebens zum jüdischen ›Buch der Schöpfung‹«

Teil 562 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


»Zweiundzwanzig Grundbuchstaben: drei
Mütter, sieben doppelte und zwölf einfache.«
(1)


Foto 1: Geflügelte Genien hantieren am »Baum des Lebens«,
assyrisches Relief.
  
  
Auf sumerischen Rollsiegeln, aber auch auf assyrischen Reliefs taucht immer wieder ein seltsames Motiv auf. Im Zentrum steht ein »Baum des Lebens«. Rechts und links davon sind zwei geflügelte Wesen dargestellt, die sich am »Baum des Lebens« zu schaffen machen. Was genau tun diese seltsamen Kreaturen? Sie scheinen etwas aus dem »Baum des Lebens« heraus zu nehmen. Oder fügen sie etwas zu? Sie verändern etwas. Sie manipulieren. Leider gibt es keine erklärenden Texte zu den mysteriösen Darstellungen, die vor Jahrtausenden entstanden. Kein Künstler sah sich damals genötigt, eine Bildunterschrift anzufügen. Verstanden die Künstler vielleicht selbst nicht, was sie darstellten? Illustrierten sie uralte Mythologie, deren Sinn sie nicht zu begreifen in der Lage waren? Interpretieren wir heute, Jahrtausende später, die Darstellungen richtig?

Der geheimnisvollste Text, der mir jemals begegnet ist, beginnt mit einer Entstehungsgeschichte der alten jüdischen Geheimlehre, genannt Kabbala. »Sefer Jesirah« (andere Schreibweisen:  Sepher Jesirah, Sepher Yetzirah, Sefer Jetzira) wird gewöhnlich mit »Buch der Schöpfung« übersetzt. »Sefer Jesirah« liegt inzwischen in diversen Übersetzungen vor, ist aber kaum verständlicher als das bis heute nicht entschlüsselte »Voynich-Manuskript« (2). Auch weichen Übersetzungen manchmal in zentraler Aussage deutlich voneinander ab.

Fotos 2 und 3 : Mysteriöse Gestalten aus dem
»Voynich-Manuskript«.

Das Manuskript wird seit 1969 unter Katalognummer »MS 408« im Bestand der »Beinecke Seltene Buch- und Manuskriptbibliothek« der Yale University verwahrt. Wilfrid Michael Voynich (*1865; †1930) hat seinem Bekunden nach das mysteriöse Werk  anno 1912 in der »Villa Mondragone«, dem Jesuiten-Kolleg in Frascati unweit von Rom entdeckt. Seither wurden zahlreiche Versuche unternommen, das reich bebilderte Manuskript zu übersetzen und zu interpretieren.

Nach wie vor umstritten ist, wann das »Voynich-Manuskript« entstanden ist. 1962 kam ein Expertenteam zum Ergebnis der Text sei nach Schreibstil und Material »um 1500 n.Chr.« verfasst worden (3). Fast vierzig Jahre später, anno 2009, haben wissenschaftliche Institute in Chicago und Arizona winzige Proben von vier verschiedenen Seiten mit der Radiokarbonanalyse datiert. Ergebnis: das verwendete Pergament stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Zeit zwischen 1404 und 1438. Die Tinte stammt offensichtlich auch aus dieser Zeit.

Auch wenn sogenannte Skeptiker das Voynich-Manuskript gern für eine neuzeitliche Fälschung halten, so hat das mit der Realität nichts zu tun. Das Manuskript ist rund ein halbes Jahrtausend alt (5).

Je gründlicher sich Wissenschaftler mit dem Voynich-Manuskript beschäftigen, desto mysteriöser wird’s! Russische Wissenschaftler publizierten erstaunliche Erkenntnisse. Nach Yuri Orlov und Team vom »Keldysh Institut für angewandte Mathematik an der Russischen Akademie der Wissenschaften« in Moskau wurde das seltsame Manuskript in mehreren Sprachen verfasst (6):

Foto 4: Geflügelte Wesen manipulieren den »Baum des Lebens«.

»Demzufolge wurde der kodierte Text des Voynich-Manuskripts zu rund 60 Prozent in Deutsch oder Englisch und zu 40 Prozent in einer romanischen Sprache, etwa Latein, Italienisch oder Spanisch, verfasst. Dass es sich dennoch bisher als unknackbares Buch mit sieben Siegeln erwies, liegt nach Ansicht von Orlov daran, dass der Text keine Vokale enthält und die ursprünglichen Leerzeichen durch neue, an anderer Stelle gesetzte Lücken ersetzt worden waren.« Ein Text ohne Vokale? Das wäre ein deutlicher Hinweis auf den Urheber: das »Alte Testament« der Bibel wurde, wie auch – zum Beispiel – die legendären Texte der Qum-Ran-Höhlen, in einer Konsonantenschrift ohne Vokale verfasst.

Arthur Tucker, ein emeritierter Botaniker von der US-amerikanischen »Delaware State University«, und Rexford Talbert, ein pensionierter »Pentagon- und NASA-Informatiker« haben sich des Voynich-Manuskripts angenommen und sind zu irritierenden Erkenntnissen gekommen (7): »Ihnen war aufgefallen, dass es Ähnlichkeiten zwischen Pflanzendarstellungen im Voynich-Manuskript und Illustrationen in mexikanischen Werken des 16. Jahrhunderts gibt. So stellten sie große Übereinstimmungen mit Zeichnungen aus dem 1552 erschienen Codex Cruz-Badianus fest – einer Beschreibung von Heilpflanzen, die von den Azteken in Mexiko verwendet wurden. Im botanischen Fachblatt ›Herbal Gram‹ identifizieren die Forscher insgesamt 37 von 303 Pflanzen, sechs Tiere und ein Mineral. Und sie wollen in so manchen Pflanzenbezeichnungen Worte gefunden haben, die auf das Nahuatl, die Sprache der Azteken, und Mixtekisch zurückgehen.«

Tatsächlich ist das Voynich-Manuskript kein Buch nach unserem Verständnis, sondern ein Kodex.

Foto 5: Der assyrische
»Baum des Lebens«.
Die Erkenntnisse russischen Forscher lassen befürchten, dass das Voynich-Manuskript so einfach nicht zu übersetzen sein wird (8): »Nach einer statistischen Analyse des Textes glauben russische Experten, dass er folgendermaßen verschlüsselt ist: Vokale und Leerzeichen werden aus dem Text entfernt. Die Symbolsammlung wird in einem neuen Text zusammengefasst, der zuvor mit Leerzeichen versehen wurde. Sie schätzen, dass etwa 60 Prozent des Textes in Englisch oder Deutsch verfasst sind und der andere Teil in einer der romanischen Sprachen – möglicherweise Italienisch oder Spanisch oder sogar Latein.«

Die zahlreichen Illustrationen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Werk um ein wissenschaftliches Kompendium handelt, das eine ganze Reihe von Themen abhandelt, nämlich von A wie Arzneimittelkunde bis Z wie Zodiak (Tierkreiszeichen). Die Sterngruppe Taurus soll  thematisiert worden sein. Warum? Pflanzenheilkunde und Frauenheilkunde scheinen zum breiten Spektrum zu gehören. Und dann gibt es seltsame Darstellungen von nackten Frauen in »Bottichen«, die untereinander mit einem recht technisch wirkenden Röhrensystem verbunden sind. Auf einer anderen Illustration scheinen sechs nackte Frauen auf einer Rutsche in ein muschelförmiges Becken zu gleiten. Eine weitere Frau sitzt auf dem Beckenrand.

Rätselhaft sind auch Darstellungen von Pflanzen, die bislang niemand identifizieren kann, und merkwürdige Fabelwesen, furchteinflößende Mischwesen. Eine kraftstrotzende Kreatur hat einen Hals und drei monströse Köpfe. Schade, dass man bis heute die begleitenden Texte nicht zu lesen vermag. Erst durch erklärende Texte würden die zum Teil obskuren Bilder verständlich. Gewiss, es heißt, ein Bild würde mehr aussagen als 1.000 Worte. In unseren Kirchen gibt es unzählige Darstellungen christlicher Themen. Wir verstehen sofort die Bedeutung solcher Bilder. Dabei vergessen wir, dass wir die Bedeutung dieser sakralen Kunstwerke nur erkennen, weil wir die Geschichten, die sie vermitteln sollen, bereits kennen.

Wenn wir auf einem Gemälde eine Stallszene sehen, bei der Ochsen und Esel ein Baby in einer Krippe umringen, dann wissen wir, dass es um die Weihnachtsgeschichte geht. Wir erkennen auch Maria, die Mutter Jesu und Joseph den Ehemann Marias. Wir wissen, warum die Hirten auch dabei sind. Hat aber jemand noch nie die Weihnachtsgeschichte gehört, dann mag ihm das Idyll gefallen. Worum es aber konkret geht, das erschließt sich dem Unwissenden nicht. Das Bild allein genügt nicht, es sagt weit weniger aus als 1.000 Worte.

Die Weihnachtsgeschichte ist in unseren Breiten noch sehr gut bekannt. Deshalb werden keine geschriebenen Worte benötigt, um entsprechende Darstellungen der Szenerie im Stall zu Bethlehem zu begreifen. Andere religiöse Darstellungen aus der Glaubenswelt des Christentums werden schon seltener, auch wenn sie nach wie vor zum katholischen Volksglauben gehören, erkannt. Beispiel: Im idyllischen Holzkirchen, südöstlich von München gelegen, lebt der christliche Volksglauben noch. An der einstigen Poststation sehen wir am Eck ein riesiges Gemälde. Das besonders schöne Beispiel der Lüftlmalerei zeigt einen riesenhaften bärtigen Menschen. Der Mann scheint schon älter zu sein, Bart und Haupthaar sind schlohweiß. Auf der rechten Schulter des Mannes sitzt ein kleines Kind. Der Mann hält fest einen gewaltigen Baumstamm in beiden Händen. Er steht am Rande eines Gewässers. Wer die fromme Legende, die das Bild ohne Worte erzählen soll, nicht kennt, dem kann das Bild nicht wirklich etwas erzählen.

Man benötigt eben doch Worte, um zu verstehen, was ein Gemälde zeigen soll. Bei dem Riesen handelt es sich um den Heiligen Christophorus. Folgen wir der Spur des Christophorus. Sie führt sie uns in die Türkei. Bereits anno 454 gab es in Chalkedon, heute ein Stadtteil von Ístanbul, eine dem Christophorus geweihte Kirche. Vermutlich ist der Heilige Christophorus, der heute die Autofahrer beschützen soll, ein alter heidnischer Gott aus vorchristlichen Zeiten im christlichen Gewand. Christophorus soll ursprünglich ein menschenfressendes, hundsköpfiges Monster gewesen sein. 

Foto 6: Heiliger Christophorus/
Lüftelmalerei,
Holzkirchen (bei München).
Foto und Copyright: Heidi Stahl.
Durch die auf »wundersame Weise erhaltene Taufe« wurde aus dem stummen Riesen Probus oder Reprobus der Heilige Christophorus, ein wortgewandter Missionar für den christlichen Glauben. Groß war sein Wunsch, sich nützlich zu machen. So wurde er schließlich Fährmann ohne Boot. Dank seiner riesenhaften Größe konnte er den tiefsten Fluss durchwaten. Eines Tages wollte ein kleines Kind über den Fluss getragen werden. Christophorus nahm es auf eine Schulter und machte sich auf den Weg. Von Schritt zu Schritt wurde das kleine Kind immer schwerer. Christophorus wäre fast unter der Last ertrunken. Er schafft es aber mit Müh‘ und Not ans andere Ufer. Dort spricht der Riese zum Kind: »Du … bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.« Das Kind antwortet: »Des sollst du dich nicht verwundern, Christophore; du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit dienst.«

Nur wenn man diese Legende kennt, dann spricht die stumme Lüftelmalerei von Holzkirchen zum Betrachter. Nur dann erkennt man, was die Malerei zeigt: den heiligen Riesen Christophorus (Heiligenschein!) mit dem Jesuskind auf der Schulter. Der Riese macht sich bereit zum ersten Schritt in den Fluss. Das Jesuskind hält die Welt in der rechten Hand.

Assyrische und sumerische Darstellungen bieten geflügelte Wesen, die am Baum des Lebens Eingriff vorzunehmen scheinen. Das Voynich-Manuskript bleibt bis heute rätselhaft, da unübersetzt (unübersetzbar?) und voller rätselhafter Illustrationen. Der Christophorus von Holzkirchen beweist: Bilder sind oft nur mit verständlichem Text verständlich. Das Voynich-Manuskript beweist: Bilder ohne erklärende Texte können vollkommen unverständlich bleiben. Und das mysteriöse Werk »Sefer Jezira« beweist, dass auch übersetzbare Texte rätselhaft bleiben können: »Zweiundzwanzig Grundbuchstaben: drei Mütter, sieben doppelte und zwölf einfache.«

Fußnoten
(1) Goldschmidt, Lazarus: »Sefer Jesirah/ Das Buch der Schöpfung«, Frankfurt 1894, »Zweiter Abschnitt I«
(2) Roitzsch, Erich H. Peter: »Das Voynich-Manuskript. Ein ungelöstes Rätsel der Vergangenheit«, Münster , 2. Auflage 2010
Schmeh, Klaus: »Codeknacker gegen Codemacher/ Die faszinierende Geschichte der Verschlüsselung«, Herdecke, 2. Auflage
(3) James, Peter und Thorpe, Nick: »Keilschrift, Kompass, Kaugummi«, München 1998 (Siehe: Kapitel 11., »Kommunikation«!)
(4) Schulz, Roland: »Das Rätselbuch«, » Süddeutsche Zeitung Magazin«, Nr. 17 vom 26. April 2013, S. 41.
(5) »Ein Schleier weniger über dem Voynich-Manuskript«, »Der Standard«, 4. Dezember 2009.
Schmeh, Klaus: »Neue Datierung des Voynich-Manuskripts sorgt für Aufsehen«, »Telepolis«. 31. Januar 2010.
(6) https://www.derstandard.at/story/2000056628752/das-voynich-manuskript-wurde-in-mehreren-sprachen-verfasst (Stand 10.07.2020)
(7) Krichmayr, Karin: »Spurensuche im Voynich-Code«, »Der Standard«, »Wissenschaft«, 07.02.2014. https://www.derstandard.at/story/1389859697159/spurensuche-im-voynich-code (Stand: 10.072020)
(8) Goldman, Eleonora: »Russian scholars unlock the secret of the mysterious Voynich manuscript«, »Russia Beyond«, »Science & Tech«, 20. 04.2017, https://www.rbth.com/science_and_tech/2017/04/20/russian-scholars-unlock-the-secret-of-the-mysterious-voynich-manuscript_746881
(Stand 10.07.2020)

Zu den Fotos
Foto 1: Geflügelte Genien hantieren am »Baum des Lebens«, assyrisches Relief, British Museum. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Fotos 2 und 3 : Mysteriöse Gestalten aus dem »Voynich-Manuskript«. Fotos wiki commons/ gemeinfrei/ Fotos Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Geflügelte Wesen manipulieren den »Baum des Lebens«. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Der assyrische Baum des Lebens. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Heiliger Christophorus/ Lüftelmalerei Holzkirchen (bei München). Foto und Copyright: Heidi Stahl.


563. »Buchstaben und Schöpfung«,
Teil 563 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 01. November 2020



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Sonntag, 18. Oktober 2020

561. »Von der Magie des göttlichen Namens«

Teil 561 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


»Uns sind die Legenden
ein Quell historischer Erkenntnis.«
Rabbi Judah Bergmann (1)

Foto 1: Buchstabenmagie der Kabbala.

Das kleine Schwarzweißfoto ist verblasst. Eine Ecke fehlt. Zu sehen ist ein kleines Sandsteinhäuschen. An einer Ecke wagt sich zaghaft etwas Efeu empor.  Auf der Rückseite ist, kaum noch leserlich, ein Datum notiert: 10. November 1938. Der vornehme alte, etwas hagere Herr lächelt. Er erzählt vom 10.November 1938, vom Tag nach der »Reichskristallnacht«. Hunderte Synagogen und Betstuben sind in dieser schrecklichen Nacht abgebrannt. Mehrere hundert Juden wurden ermordet.

Die kleine Synagoge, im frühen 18. Jahrhundert in einem Städtchen in Franken gebaut, blieb verschont. Die Männer der SA, so erfahre ich, verzichteten darauf, die Synagoge in Brand zu stecken. Sie befürchteten ein Übergreifen der Flammen auf das Städtchen.

Traurig erzählt mir der alte Herr, immer wieder stockend, dass die SA-Männer die Juden des Orts zwangen, ihre Synagoge leerzuräumen und Schriften, Möbel und alles, was irgendwie abtransportiert werden konnte, auf einer Wiese außerhalb des Städtchens zu verbrennen. In einem Zwischenboden über dem Toraschrein wurde, so flüsterte mir der ehrwürdige alte Herr zu, ein kurzer handschriftlicher Kommentar gefunden. Im Text, da ist sich der einstige Gehilfe eines Rabbi sicher, erklärte »die magische Bedeutung der hebräischen Konsonanten«.

Der Text, bei weitem nicht vollständig, bot keine sensationellen Enthüllungen. Vielmehr behandelte er die seit vielen Jahrhunderten zumindest eingeweihten Kennern des Judentums bekannte magische Wirkung der alten Buchstaben. Einzelne Kombinationen einiger weniger Buchstaben galten in der alten Geheimlehre der Kabbala als besonders starker Zauber. Der alte Mann schweigt. Dann fährt er fort: »Ich weiß, im Zentrum des Textes stand die Erschaffung eines Golem mit Hilfe des Gottesnamens.«

Foto 2: »sefer jezira«
oder »Buch des Lebens« (Cover)
Dr. Julius Judah Bergmann (*1874; †1956) studierte von 1893 bis 1897 am Rabbinerseminar in Wien. Dort legte er das Rabbinerexamen ab. Anno 1897 promovierte er zum Dr. phil. an der Universität Wien. 1919 gehörte er zu den Gründern der »Freien Jüdischen Volkshochschule« von Berlin. 1934 gelang ihm noch rechtzeitig mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter die Flucht nach Palästina. In Jerusalem wurde er Rabbiner am »Hadassah-Hospital« und an der tschechischen Synagoge in Jerusalem. Sein Werk »Die Legenden der Juden« bietet eine erstaunliche Fülle an Material über die zum Teil mysteriösen Überlieferungen der Juden. Über den Golem lesen wir (2):

»Das Höchste, das die kabbalistischen Wundertäter vollbringen konnten, war die Schöpfung lebender Wesen. Der hohe R(abbi) Löw zu Prag schuf ein Gebilde aus Lehm, einen Golem, legte ihm den Gottesnamen in den Mund und hauchte ihm Leben ein. Der Golem wurde der Diener des Rabbi. Jedesmal vor Sabbatbeginn nahm R(abbi) Löw den Gottesnamen aus dem Munde seines Dieners. Einmal vergaß er das zu tun, und der Diener begann, während der Meister im Gotteshause weilte, alles zu zerstören. Darauf eilte R(abbi) Löw aus der Synagoge und nahm den Gottesnamen aus dem Munde seines Dieners. Der Golem war tot und zerfiel zu Staub.«

Rabbi Löw, eigentlich Jehuda ben Bezal’el Löw von Prag (*1512-1525; † 17. September 1609 in Prag), war ein geradezu legendärer Rabbiner, Talmudist, Prediger und Philosoph. Er gilt, so überliefert es die Legende, als der Schöpfer des mythischen Golem von Prag. Auf ihn nimmt Gustav Meyrinks Roman »Der Golem«, 1915 in Leipzig erschienen, Bezug. Der expressionistische deutscher Stummfilmilm »Der Golem, wie er in die Welt kam« von Paul Wegener und Carl Boese erzählt die geheimnisvolle Geschichte von Rabbi Löws künstlichem Monster.

Das alte Herr steckt das vergilbte Schwarzweißfoto der kleinen Synagoge wieder in eine Brusttasche seines Jacketts. »Rabbi Löw war aber der Legende nach nicht der einige, der Golems schuf!«, erklärt er mir. Er hat einiges zu erzählen. Ich lausche gebannt seinen Worten und mache mir Notizen.

Rabbi Elijah Ba'al Shem von Chełm (*1550; †1583) war als Oberrabbiner von Chelm hoch angesehen. Sein Ruf als Kenner der Geheimlehre der Kabbala war legendär. Besonders gründlich soll der Oberrabbiner das »Buch der Schöpfung« studiert haben. Schließlich sei es dem gelehrten Mann gelungen, einen künstlichen Menschen zu schaffen.

Dr. Julius Judah Bergmann schreibt (3): »R(abbi) Jakob Emden berichtet im Namen seines Vaters, R(abbi) Elia aus Cholm habe mit Hilfe des ›Buches der Schöpfung‹ einen Menschen erschaffen. Als der Erschaffene immer größer wurde, fürchtete der Rabbi, sein Geschöpf könne die Welt zerstören. Darum nahm er von der Stirn des Erschaffenen den Gottesnamen und verwandelte sein Geschöpf in Staub.«

Foto 3: Noch ein Druck
von »sefer jezira« (»Buch des Lebens«)
(Cover)
Mit dem »Gottesnamen« konnte, darüber gibt es zahlreiche jüdische Legenden, wirklich Erstaunliches bewirkt werden. Ein frappantes Beispiel: Moses ben Nachman (* 1194; † 1270), auch bekannt als Rabbi Moshe ben Nahman, genoss im Mittelalter einen legendären Ruf als herausragender jüdischer Gelehrter, Arzt, Philosoph und Dichter. Die Überlieferung zeichnet ihn als außerordentlichen Kenner der kabbalistischen Buchstabenmagie. Mit erstaunlichem Erfolg nutzte er die Kraft des Gottesnamens. Manche Sage klingt in unseren Ohren seltsam vertraut. So wie der Golem mit dem Gottesnamen programmiert wurde, so geschah dies auch mit einem Schiff (4): »Von selbst fuhr das Schiff in kurzer Zeit eine weite Strecke in das Meer hinaus und kehrte ebenso schnell in den Hafen zurück, fuhr aufs Land und hielt in der Mitte der Stadt inne. Zur Erinnerung an das wundersame Ereignis erbauten die Bewohner der Stadt an dieser Stelle einen Turm.«

Ein von selbst agierender Golem erinnert uns, am Anfang des dritten Jahrtausends nach Christus, an einen Roboter, der von einem Programm (»heiliger Gottesname«) gesteuert wird. Ein Schiff, dass wie von selbst aufs Meer hinaus fährt und wieder retour kommt, wird ebenfalls vom »Programm heiliger Gottesname« gelenkt. Es kann sogar an Land fahren, wie ein modernes Amphibienfahrzeug. Aus Sicht der »alten Juden« wäre ein Programm, wie es heute in unzähligen Computern zum Einsatz kommt, nichts anderes als geschriebene Buchstabenmagie. Ein Computerprogramm, das einen Roboter oder ein Amphibienfahrzeug steuert, würde ihnen wie wundersamer Zauber erscheinen.

Sir Arthur C. Clarke (*1917;† 2008) hat es in »Profiles of the Future« völlig zutreffend so formuliert, und ich muss noch einmal dieses wichtige Zitat ins Gedächtnis rufen (5): »Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden.« Bis heute hielt es niemand für nötig, zum Beispiel die umfangreichen »Legenden der Juden« nach Hinweisen auf unmögliche Technologie zu überprüfen. Damit meine ich modernste Technologie, die es nach herkömmlicher Lehrmeinung zur Zeit der Legendenentstehung natürlich nicht gegeben haben kann, weil es sie noch nicht gegeben haben darf.

Foto 4: »sefer jezira« oder »Buch des Lebens«,
frühes Manuskript (10.- 11. Jahrhundert), Ausschnitt.

Heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus, kommen weltweit »Tunnelbohrmaschinen« zum Einsatz (6): »Eine Tunnelbohrmaschine ist eine Maschine, die zum Bau von Tunneln eingesetzt wird. Sie eignet sich besonders für hartes Gestein. Auch beim Tunnelbau im lockeren Fels, der für Vortrieb mittels Sprengtechnik ungeeignet ist, werden solche Großmaschinen eingesetzt.

Tunnelbohrmaschinen gehören zusammen mit den Schildmaschinen zu den Tunnelvortriebsmaschinen. Wichtigster Teil einer Tunnelbohrmaschine ist der Bohrkopf; er hat einen Durchmesser von bis zu 20 Metern und besteht aus einem Meißelträger mit rotierenden Rollenmeißeln, der ausgebrochenes Gestein nach hinten befördert. Die Einrichtung im hinteren Teil des Bohrkopfes hat bei großen Durchmessern eine Länge von bis zu 200 Metern mit Hilfseinrichtungen. Tunnelbohrmaschinen sind Vollschnittmaschinen, das heißt, sie bauen, anders als Teilschnittmaschinen, den gesamten Tunnelquerschnitt in einem Arbeitsschritt ab.«

Eine solche Bohrmaschine erscheint auch uns heute noch wie ein technologisches Meisterwerk von monströsen Ausmaßen. Stellen wir uns so eine Bohrmaschine vor. Versuchen wir sie so zu beschreiben, dass sie in eine der »Legenden der Juden« passen würde: »Gott schickte einen Wurm, der den Berg durchbohrte.« So eine Tunnelbohrmschine ist in der Tat nichts anderes als ein riesiger Wurm, computergesteuert, der sich einen Weg durch Berge bahnt. Wer anders als Gott selbst könnte in einer Legende der Juden so einen Monsterwurm lenken als Gott selbst?

Das Zitat »Gott schickte einen Wurm, der den Berg durchbohrte.« ist keine fiktive sagenhaft klingende Umschreibung einer Tunnelbohrmaschine. Wir finden es in Dr. Julius Judah Bergmanns »Die Legenden der Juden« im Kapitel »Die Lieblinge Gottes« (7). Aber beschreibt die Legende tatsächlich so etwas wie einen riesigen Roboter, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit Tunnel durch Erde und Gestein gräbt? Und hat der legendäre Golem tatsächlich existiert, ein Roboter, der Amok laufen konnte?

Foto 5: »sefer jezira« oder »Buch des Lebens«,
jüngeres Exemplar, etwa 14. Jahrhundert. Ausschnitt.

Rabbi Elia aus Cholm, so überliefert es die Legende, soll mit Hilfe des »Buches der Schöpfung«  eine Art Roboter-Menschen erschaffen haben. Die Kreatur bedrohte schließlich, so befürchtete es der Rabbi, die Welt. Rabbi Elia schaltete sein Werk aus, bevor es die Menschheit auslöschen konnte. Die »Golems« an denen heute bereits gearbeitet wird, werden womöglich Nachfolger der Menschheit, so wie wir sie kennen, werden. Dann sind die Tage von uns Jetzt-Menschen gezählt! Warnt die uralte Legende vom Golem vor so einer Entwicklung? Werden wir vom Planeten verschwinden oder von den Golems geduldet ein Dasein als »Haustiere« der Golems fristen?


Fußnoten
(1) Bergmann, Rabbi Judah: »Die Legenden der Juden«, Berlin 1919, Vorwort, Seite 3, 5.+4. Zeile von unten
(2) Ebenda, Seite 42, 15.-25. Zeile von oben

(3) Ebenda, 14.-8. Zeile von unten. Anmerkung: Dr. Julius Judah Bergmann schreibt »Cholm«, heute ist »Chelm« gebräuchlicher.
(4) Ebenda, Seite 39, 20.-25. Zeile von oben. Bergmann nennt als Originalquelle »Schalschelet 43b«.
(5) Clarke, Sir Arthur C: »Profiles of the Future«, zitiert von Weber, Andreas in »Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit«, Berlin 2008, Seite 57. Originalzitat: »Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.«. Quelle: »Profiles of the future: an inquiry into the limits of the possible«, revidierte Ausgabe 1973, Seite 36
(6) Wikimedia-Artikel »Tunnelbohrmaschine«: https://de.wikipedia.org/wiki/Tunnelbohrmaschine (Stand 05.07.2020)
(7) Bergmann, Rabbi Judah: »Die Legenden der Juden«, Berlin 1919,  Seite 21, 7. Zeile von oben

Zu den Fotos
Foto 1: Buchstabenmagie der Kabbala. Archiv Walter-Jörg Langbein 
Foto 2: »sefer jezira« oder »Buch des Lebens« (Cover). Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Noch ein Druck von »sefer jezira« oder »Buch des Lebens« (Cover). Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: »sefer jezira« oder »Buch des Lebens«, frühes Manuskript (10.- 11. Jahrhundert), Ausschnitt. Archiv Walter-Jörg Langbein

Foto 5: »sefer jezira« oder »Buch des Lebens«, jüngeres Exemplar, etwa 14. Jahrhundert. Ausschnitt.
Archiv Walter-Jörg Langbein


562. »Vom assyrischen Baum des Lebens zum jüdischen ›Buch der Schöpfung‹«,
Teil 562 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 25. Oktober 2020


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